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„Open“ ist eine Haltung: Wie Lehrkräfte mit OER umgehen
Offene Bildungsressourcen versprechen mehr als lediglich freien Zugang zu Unterrichtsmaterialien. Zwar ist der unkomplizierte Zugriff auf Arbeitsblätter, Präsentationen oder Schaubilder ein unbestreitbarer Vorteil. Doch OER verkörpern darüber hinaus eine bildungstheoretische Vision, die auf Kollaboration, Offenheit und Bildungsgerechtigkeit zielt.
Doch was geschieht, wenn diese Vision auf die Realität schulischer oder hochschulischer Unterrichts- und Lehrpraxis trifft? Empirische Studien von Baas et al. (2022), Buntins et al. (2024) und Admiraal (2022) geben hierzu differenzierte Einblicke. Ihre Befunde zeigen, dass zwischen dem visionären Potenzial von OER und ihrer gelebten Praxis eine deutliche Lücke besteht. Liegt etwa in eben dieser Diskrepanz womöglich der Schlüssel für einen möglichen kulturellen Wandel der Bildungskultur?
Eine Frage der Ressourcen
Wenn Lehrpersonen oder Dozierende an Universitäten Unterricht bzw. Seminare vorbereiten, greifen sie dabei primär auf institutionell bereitgestellte, selbst entwickelte oder Materialien aus der Google-Suche zurück. OER stellen im Lehrer:innen- bzw. Dozierendenalltag nach wie vor ein Randphänomen dar, weniger aus Ablehnung, sondern weil das Phänomen nach wie vor noch wenig bekannt ist. Wird geeignetes Material gefunden, spielt die ausgewiesene Lizenz häufig nur eine marginale Rolle [(vgl. Buntins et al. 2024)].
Admiraal (2022) ergänzt, dass der Erstkontakt mit OER bei Lehrpersonen oftmals zufällig erfolgt, etwa durch informelle Netzwerke oder kollegiale Empfehlungen. Kommen also Lehrpersonen mit OER in Kontakt oder gebrauchen diese gar, ist das nicht zwingend das Resultat einer strategischen Medienplanung.
Die Entscheidung, ob OER von Lehrpersonen verwendet werden, hängt an der Frage der Qualität. Admiraal (2022) hebt hervor, dass Qualitätswahrnehmung von Lehrpersonen mit Blick auf den jeweiligen Schul- und Unterrichtskontext erfolgt. Lehrkräfte bewerten Materialien primär nach der Passung zum eigenen Unterrichtsstil und zu den spezifischen Lernzielen. Offenheit, im Sinne der CC-Lizenzen ist dabei ein Ermöglichungsfaktor, jedoch kein Selbstzweck. > [Dies deckt sich auch mit einigen Aussagen, aus unseren Interview, in denen das Teilen von Material für andere Lehrkräfte im Vordergrund stand und nicht die CC-Lizensierung].
Aus den genannten Interviews lässt sich herausarbeiten, dass Unterrichtsmaterial so passend wie möglich zur Lerngruppe ausgewählt und dann mit kleinen Änderungen für den eigenen Unterricht tauglich gemacht wird. Die Weiterentwicklung des Materials, um dies dann erneut online zur Verfügung zu stellen, fände nur selten bis gar nicht statt. Dazu fehlen nach Einschätzung der interviewten Person weitere Hilfestellungen zur Verwendung von CC-Lizenzen und generelles Wissen zu den Möglichkeiten von und mit OER.
Barrieren und blinde Flecken
Inzwischen ist durch Studien recht gut belegt, dass strukturelle Hemmnisse einen immensen Faktor darstellen, warum OER nicht zum Einsatz kommen (Baas et al., 2022). Hierzu zählen vor allem mangelnde Sichtbarkeit der Materialien, fehlende institutionelle Unterstützung und rechtliche Unsicherheiten. Dies deutet auf infrastrukturelle Defizite hin, die den Einsatz offener Ressourcen nach wie vor zu wenig unterstützen.
Darüber hinaus herrschen noch immer verbreitete Lizenzunsicherheiten selbst unter erfahrenen OER-Nutzenden vor, was die Weitergabe, Bereitstellung und Nachnutzung von Materialien als OER deutlich hemmt (Admiraal 2022).
Von der Ressource zur offenen Praxis
Die Praxis von Lehrpersonen zeigt deutlich, dass Offenheit kein Selbstläufer darstellt. Kommt es zum Einsatz von OER in der Schul- und Lehrpraxis, wird jedoch auch deutlich, dass OER noch immer hinter ihrem Potenzial zurückbleiben. Selbst qualitativ hochwertige OER werden nicht automatisch zu Treibern innovativer Lehr-Lern-Kulturen, solange sie primär als fertige, unveränderliche Produkte verstanden werden.
Offene Bildungsressourcen entfalten ihr volles transformatives Potenzial erst dann, wenn sie in offene Bildungspraktiken eingebettet werden, also in Lehr-Lern-Arrangements, die auf Adaption, Weiterentwicklung, Publikation und kollaborative Gestaltung setzen. Die Befunde von Buntins et al. (2024) unterstreichen dies: Lehrkräfte in Deutschland nutzen OER eher selten aktiv. Am häufigsten passen sie bestehende offene Materialien an, gefolgt von der reinen Nutzung fremder OER. Die eigenständige Erstellung und Bereitstellung offener Materialien ist hingegen deutlich seltener, ebenso die kooperative Entwicklung. Auch das Wissen über Lizenzvarianten ist gering und bei der Onlinesuche achten Lehrkräfte nur in begrenztem Maße auf offene Lizenzen.
Auch Admiraal (2022) kommt zu ähnlichen Ergebnisse und entwirft eine Typologie von OER-Nutzenden, die sich nach dem Grad ihrer Partizipation unterscheiden:
- Retain & Consume: OER werden genutzt, aber unverändert beibehalten (ca. 16 % der Befragten).
- Adapt & Re-use: Bestehende Materialien werden an den eigenen Kontext angepasst und erneut verwendet (die größte Gruppe mit ca. 47 %).
- Create & Add – Neue Materialien werden entwickelt und in offene Repositorien eingestellt (ca. 12 %).
- Publish & Comment – Neben dem Erstellen und Veröffentlichen findet auch ein aktiver Austausch und kollektives Kommentieren in offenen Communities statt (ca. 11 %).
Die Übersicht verdeutlicht, dass fast zwei Drittel der Lehrenden sich im Bereich des individuellen Konsums und der Anpassung bewegen, während nur ein kleinerer Anteil den Schritt in die öffentliche, kollaborative Gestaltung wagt. Dies ist dahingehend hemmend für die Weiterentwicklung von der Lehr- und Lernpraxis, da eine Veränderung der Bildungskultur nicht durch Materialien wie OER vorangetrieben wird, sondern durch das Engagement der Pädagog:innen, die den letzteren Schritt wagt (Littlejohn & Hood 2017: 506 f.).
Gerade hier liegt jedoch nach Baas et al. (2022) das größte Innovationspotenzial: In kollaborativen Prozessen werden Qualitätsdimensionen gemeinsam verhandelt, Perspektivenvielfalt integriert und Materialien kontinuierlich verbessert. Dieser Schritt von der Ressource zur Praxis verändert nicht nur die Unterrichtsmaterialien, sondern auch die professionelle Selbstwahrnehmung der Lehrkräfte – von Materialnutzer:innen hin zu Ko-Produzent:innen und Qualitätsprüfer:innen.
Wer OER nicht nur verwendet, sondern aktiv gestaltet, benötigt neben Zugang und Qualitätsbewusstsein auch institutionelle Unterstützung, Rechtssicherheit und kollegiale Netzwerke. Kooperative Entwicklungsprozesse steigern die Qualität und Innovationskraft von OER. Kollegiale Netzwerke fungieren dabei als Katalysatoren, indem sie Perspektivenvielfalt und geteilte Verantwortung in den Produktionsprozess einbringen (Admiraal 2022). Erst diese Kombination ermöglicht, dass Offenheit zu einer gelebten pädagogischen Haltung wird.
Offenheit als Kulturwandel: Religionspädagogische Perspektiven
Sowohl Baas et al. (2022) als auch Admiraal (2022) betonen, dass nachhaltige OER-Integration einen Paradigmenwechsel erfordert. Offenheit muss als professionelle Norm verankert werden, unterstützt durch institutionelle Anerkennung, infrastrukturelle Rahmenbedingungen und Kompetenzentwicklung. Erst dann wird das Teilen von Materialien zu einer selbstverständlichen pädagogischen Praxis. > Diese Offenheit ist jedoch kein Automatismus, aus unserer Erfahrung mit Communities sowie Personen die Material für den Kontext von Schule und Lehre erstellen, es ist etwas, das erlernt und geübt werden muss.
Für Religionslehrkräfte eröffnen sich kreative Handlungsräume, die sich trotz nachvollziehbarer Hemmnisse dennoch lohnen:
- Kontextualisierte Materialien: OER ermöglichen die flexible Anpassung an unterschiedliche konfessionelle, interreligiöse oder pluralitätsorientierte Unterrichtskontexte
- Kollaborative Materialentwicklung: Offene Plattformen wie rpi-virtuell erlauben die Erstellung und gemeinsame Pflege religionspädagogischer Materialien über Schul- und Gemeindegrenzen hinweg
- Partizipative Lernprozesse: Lernende können aktiv in die Erstellung religionspädagogischer Bildungsressourcen eingebunden werden, bspw. bei Erklärvideos oder Glossaren
Open ist in diesem Sinn keine rein technische oder rechtliche Kategorie, sondern eine pädagogische Haltung, ein Bekenntnis zu einer Bildungskultur, die Teilhabe nicht nur ermöglicht, sondern als grundlegendes Prinzip pädagogischen Handelns versteht.
Literatur
- Admiraal, W. (2022). A typology of educators using Open Educational Resources for teaching.
- Baas, M., et al. (2022). Qualitätskriterien und Reflexionsprozesse in der OER-Nutzung von Lehrkräften.
- Buntins, K., Diekmann D., Klar M., Rittberger M., Kerres M. (2024). «Material teilen? Praktiken der Entwicklung und Nutzung digitaler Unterrichtsmaterialien von Lehrpersonen an Schulen in Deutschland». MedienPädagogik (Occasional Papers): 1–33. https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2024.01.10.X.
- Littlejohn & Hood (2017). How educators build knowledge and expand their practice: The case of open education resources