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# Offenheit bedeutet mehr als Zugang – OER, OEP und die Zukunft inklusiven Lernens
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## Von der Illusion der Offenheit
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Kostenlose Lehrbücher, frei zugängliche Materialien und Texte, offene Lern-Plattformen. Da liegt doch folgender Gedanke nahe: Wer könnte denn hier noch ausgeschlossen werden?
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Blick man jedoch genauer hin, wird schnell deutlich, dass Offenheit allein nicht reicht. Ein freies E-Book nützt wenig, wenn Lernende kein stabiles Internet haben, wenn die Inhalte nur eine Perspektive abbilden oder wenn das Material Lernende auf eine passive Konsument:innenrolle festlegt.
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Wie können also OER und Open Educational Practices (OEP) wirklich inklusives Lernen ermöglichen? Wertvolle Einblicke in die Studie von Bali, Cronin & Jhangiani (2020) liefern Erkentnnisse auf OEP aus sozial-gerechter Perspektive. Auch die Studie von Pieper, Bierschwale, Sikorová & Vogt (2023) gibt Aufschluss über zentrale Kriterien für inklusionssensible Bildungsmaterialien. Schauen wir also genauer hin, was es wirklich für inklusives Lernen braucht.
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## Chancen von OER: Barrieren senken, Vielfalt sichtbar machen
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OER stellen zunächst eine wichtige ökonomische Entlastung dar. Offene Lehrbücher und Materialien können verhindern, dass Lernende aus finanziellen Gründen von Bildungszugängen ausgeschlossen werden.
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Ihr Potenzial reicht jedoch weit darüber hinaus. Nach Einschätzung der UNESCO können OER einen entscheidenden Beitrag zu einer qualitativ hochwertigen, inklusiven, offenen und partizipativen Bildung leisten (UNESCO 2017). Ihnen wird eine zentrale Rolle bei der Erreichung des vierten Ziels für nachhaltige Entwicklung (SDG 4) zugeschrieben, das den Anspruch formuliert, hochwertige Bildung für alle zu gewährleisten. Das Kernanliegen von OER liegt dabei im rechtssicheren Teilen und Anpassen von Materialien sowie im Aufbau entsprechender Infrastrukturen. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, auf unterschiedliche Lernausgangslagen einzugehen und darauf abgestimmte Zielsetzungen zu formulieren (vgl. Müller 2016).
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Dies bedeutet, dass OER so gestaltet werden können, dass sie unterschiedliche Niveaus, Sprachen oder kulturelle Hintergründe einbeziehen können. Vielfalt wird so zur Ausgangspunkt des Lernens. Ein Beispiel dafür sind **offene Schulbuchprojekte**, wie das *OpenStax*-Programm, das kostenfreie Lehrbücher in verschiedenen Fächern bereitstellt. Sie können übersetzt und didaktisch angepasst werden, z.B. indem Bezüge zu den Lebenswelten der Lernenden eingebaut werden.
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Darüber hinaus tragen OER das Potenzial in sich, eine erhöhte Sensibilität gegenüber diskriminierenden Strukturen zu fördern. Lehr- und Lernmaterialien, die Stereotype oder einseitige Darstellungen reproduzieren, wirken exkludierend und verstärken bestehende Ungleichheiten. Die Offenheit von OER ermöglicht es hingegen, Materialien kritisch zu überarbeiten, kontextsensitiv anzupassen oder gänzlich neu zu entwickeln. Dieser Prozess ist nicht auf Expert:innen beschränkt, sondern kann auch durch Lehrende und Lernende selbst gestaltet werden, die ihre jeweiligen Perspektiven einbringen. Offene Lizenzen schaffen die notwendige rechtliche Grundlage für die diversitätssensible Weiterentwicklung von Bildungsressourcen.
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## Chancen von OEP: Prozesse öffnen, Teilhabe ermöglichen
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Während OER vor allem auf Inhalte zielen, geht es bei OEP um die Frage, *wie* gelernt wird. Bali, Cronin & Jhangiani (2020) machen deutlich, dass OEP drei Dimensionen umfassen: (1) Inhalte, (2) Rollenverteilungen und (3) Zielsetzungen. Offenheit kann bedeuten, Materialien frei zugänglich zu machen. Sie kann aber auch bedeuten, Lernende in die Rolle von Mitgestalter:innen zu bringen oder Praktiken bewusst auf soziale Gerechtigkeit auszurichten. Hier lohnt sich ein genauerer Blick auf die verschiedenen Bereiche:
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### 1. Von inhaltszentriert zu prozessorientiert
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Viele Praktiken der offenen Bildung setzen zunächst bei Materialien an. Lehrkräfte nutzen oder erstellen offene Lehrbücher, Arbeitsblätter oder Videos. Solche Ansätze sind klar inhaltszentriert, da sie in erster Linie den Zugang zu Ressourcen verbessern.
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Der Fokus kann jedoch in Richtung prozessorientierter OEP verschoben werden. Dann geht es nicht nur um Inhalte, sondern um die aktive Beteiligung der Lernenden: „Content-focused OEP may involve the creation, adaptation, or use of OER, while process-focused OEP may involve learners as co-creators of knowledge, engaging them in open networked practices” (Bali, Cronin & Jhangiani 2020, S. 5).
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Prozessorientierte Praktiken rücken die Lernprozesse ins Zentrum. Beispiele sind kollaborative Annotation, Wikipedia-Edits oder die Gestaltung eigener Domains, bei denen Lernende nicht nur konsumieren, sondern Inhalte mitentwickeln und verbreiten.
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Ein anschauliches Beispiel hierfür sind **„renewable assignments“**. Studierende verfassen Aufgaben, die nicht in Archiven verschwinden, sondern als Ressource für andere nutzbar bleiben. So ensteht eine Sammlung von Prüfungsfragen zu einem offenen Lehrbuch (vgl. Bali, Cronin & Jhangiani 2020, S. 11). Hier wird sichtbar, wie sich der Schwerpunkt von der Bereitstellung von Inhalten hin zur Gestaltung gemeinsamer Lernprozesse verschieben kann.
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### 2. Von lehrkraftzentriert zu lernendenzentriert
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Die zweite Dimension betrifft die Frage, wer im Mittelpunkt steht und über Handlungsmacht verfügt. Lehrkraftzentrierte OEP sind dann gegeben, wenn Dozent:innen Materialien auswählen und den Lernenden bereitstellen. Lernendenzentrierte Praktiken verschieben die Agency dagegen zu den Studierenden, die Materialien selbst entwickeln, kritisch reflektieren und öffentlich teilen.
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Besonders deutlich wird dies bei **kollaborativer Annotation** mit Tools wie *Hypothes.is*. Lernende kommentieren und diskutieren Texte gemeinsam. Bali, Cronin & Jhangiani betonen, dass dadurch „room for different participants, including socially inhibited and marginalized voices, to contribute“ entsteht (2020, S. 20). Hier liegt die Verantwortung für den Lernprozess eindeutig bei den Studierenden, die Inhalte nicht nur konsumieren, sondern selbständig bearbeiten und erweitern, im Unterschied zu rein lehrkraftzentrierten Szenarien wie der Bereitstellung eines offenen Lehrbuchs.
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### 3. Von primär pädagogisch zu primär sozial-gerecht motivierten Praktiken
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Die dritte Dimension bezieht sich auf die Motivation. OEP können pädagogisch intendiert sein, etwa um Lernende stärker zu aktivieren, kollaborative Prozesse zu fördern oder Reflexionsräume zu eröffnen. Sie können jedoch ebenso explizit auf soziale Gerechtigkeit abzielen: „At one end of this spectrum, OEP is used to enhance learning and teaching, while at the other end, it is oriented primarily towards redressing forms of economic, cultural, or political injustice” (Bali, Cronin & Jhangiani 2020, S. 6).
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Nicht jede offene Praxis ist also automatisch gerecht. Erst wenn Fragen nach Zugang, Repräsentation und Teilhabe bewusst berücksichtigt werden, entfaltet Offenheit ihr Potenzial. Projekte wie **Wikipedia-Edit-a-thons** verdeutlichen dies eindrücklich. Zwar ist Wikipedia grundsätzlich frei zugänglich, doch ihre Inhalte werden nachweislich von weißen, männlichen Autoren dominiert. Edit-a-thons schaffen hier Gegenöffentlichkeiten, indem marginalisierte Perspektiven gezielt eingebracht werden. Solche Initiativen verfolgen das Ziel, Repräsentationslücken zu schließen und Sichtbarkeit herzustellen, und sind damit explizit sozial-gerecht motiviert.
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## Kriterien für Inklusionssensibilität: Was Materialien leisten müssen
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Pieper et al. (2023) machen deutlich, dass OER nur dann ihr inklusives Potenzial entfalten, wenn sie bestimmte Qualitätsanforderungen erfüllen. Diese Kriterien gehen über rein technische oder inhaltliche Aspekte hinaus und betreffen die didaktische, soziale und kulturelle Dimension von Lernprozessen.
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- **Adaptivität**: Materialien müssen so gestaltet sein, dass sie flexibel an unterschiedliche Lernvoraussetzungen angepasst werden können. Das betrifft nicht nur Lesbarkeit, Sprache oder Niveau, sondern ebenso die Möglichkeit, Inhalte zu kürzen, zu erweitern oder in andere Kontexte zu übertragen. Adaptivität bedeutet damit, individuelle Lernwege ernst zu nehmen und Heterogenität als Ausgangspunkt zu verstehen.
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- **Selbstwirksamkeit**: Materialien sollen Lernende nicht in einer passiven Rolle belassen, sondern sie aktiv ermutigen, Fragen zu stellen, eigene Zugänge zu entwickeln und ihre Stimmen einzubringen. In digitalen Kontexten geht es noch stärker um **Agency**, also um die Fähigkeit, Lernprozesse eigenständig mitzugestalten.
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- **Lernstandsüberprüfung**: Inklusionssensible Materialien regen Lernende an, über das eigene Lernen nachzudenken und dabei auch Macht- und Wissensverhältnisse kritisch zu reflektieren. Im digitalen Raum bedeutet dies **Self-reflection**: die Fähigkeit, Technologien nicht nur zu nutzen, sondern ihre gesellschaftlichen Implikationen, Chancen und Risiken bewusst zu hinterfragen.
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- **Feedback**: Materialien müssen Rückmeldungen in mehrfacher Hinsicht ermöglichen. Sie sollen Lernenden helfen, ihren Lernstand einzuschätzen, zugleich aber auch die Weiterentwicklung des Materials selbst unterstützen. Feedback ist hier nicht nur Korrektur, sondern Teil einer offenen Feedbackkultur, die Materialien lebendig hält und durch Rückmeldungen von Lernenden, Lehrenden und Communities kontinuierlich verbessert.
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Diese Kriterien bilden in ihrer Gesamtheit eine Reflexionsfolie für die Gestaltung inklusiver Materialien. Sie zeigen, dass Inklusionssensibilität nicht als ein feststehendes Label verstanden werden darf, sondern als Prozess, als offene Praktik, in der Materialien stets auf ihre Passung, ihre Anschlussfähigkeit und ihre Wirkung auf unterschiedliche Lernende hin überprüft und weiterentwickelt werden.
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## Offenheit braucht Haltung
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Offenheit ist somit keine neutrale Kategorie, sondern eine Haltung. Sie richtet den Blick nicht auf diejenigen, die ohnehin Zugang haben, sondern auf diejenigen, deren Stimmen bisher fehlen. Für Lehrkräfte bedeutet dies, Materialien nicht nur als OER zu teilen, sondern sie gemeinsam mit den Lernenden kritisch zu erarbeiten. Lernende haben so die Möglichkeit, eigene Perspektiven sichtbar zu machen und Bildungsprozesse aktiv mit ihren Perspektiven mitzugestalten. Letztlich ist es auch Aufgabe der Bildungspolitik, Strukturen zu schaffen, die eine solche konsequente Teilhabe ermöglichen.
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OER und OEP entfalten ihr Potenzial dort, wo sie Vielfalt nicht nur abbilden, sondern zur Grundlage des Lernens machen. Offenheit ist dann kein leeres Versprechen mehr, sondern gelebte Praxis, die die Zukunft inklusiven Lernens prägt.
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**Literatur**
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### Literaturverzeichnis
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- Bali, Maha; Cronin, Catherine & Jhangiani, Rajiv S. (2020). Framing Open Educational Practices from a Social Justice Perspective. *Journal of Interactive Media in Education*, 10(1), 1–12. https://doi.org/10.5334/jime.565
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- Müller, Frank J. (2016). Inklusive Open Educational Resources. Wie frei verfügbare Bildungsmaterialien im Umgang mit Heterogenität helfen können. *Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik*, 22, 38–44.
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- UNESCO (2017). *Ljubljana OER Action Plan. Second World Open Educational Resources Congress*. Paris: UNESCO. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000260762
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- Pieper, Marlene; Bierschwale, Christoph; Sikorová, Zuzana & Vogt, Michaela (2023). Kriterien für inklusionssensible Bildungsmaterialien und ihre Weiterentwicklung für den digitalen Kontext. *MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung*, 20 (Jahrbuch Medienpädagogik), 669–688. https://doi.org/10.21240/mpaed/jb20/2023.09.25.X
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